Friedlich liegt Höchheim im Sonntagsschlaf, während Andreas Frühstück zubereitet, damit Ronald und ich rechtzeitig nach Hessen aufbrechen können. Der hessische Radroutenplaner hat einen Weg mit geringen Steigungen nach Hünfeld herausgefunden, doch durch die Rhön müssen wir auf jeden Fall bis 800 Meter hoch. Die Gegend ist so unzugänglich, dass auch keine Bahnlinie für den Notfall in der Nähe wäre, und so stehen die 90 Kilometer heute in ganzer Pracht vor uns.

Zunächst einmal folgen wir der Milz, die aber zu klein ist, um einen Radweg unmittelbar neben sich zu dulden; darum geht es auch hier schon in kleinen Wellen auf und ab. Nach Waltershausen gibt es einen ersten längeren Aufstieg, den Ronald und ich in unterschiedlichen Zeiten meistern. Er musste gestern untrainiert in die Haßberge hinauf, während ich immerhin schon 3000 Kilometer Training hinter mir habe.

Zwischen Wargolshausen und Mittelstreu überqueren wir eine leere Autobahn, die an die Sonntagsfahrverbote während der Ölkrise Anfang der 70er Jahre erinnert. Es ist die A 71, die heute offenbar kaum benötigt wird. Der Streu aufwärts folgen wir bis Oberstreu. Dort begegnet uns eine schwarze Wolkenwand, die sich über uns ausschüttet, doch wir haben rechtzeitig Zuflucht in der örtlichen Bushaltestelle gefunden, die montags bis freitags zwischen 7 und 8 Uhr angefahren wird. Hoffnung auf öffentlichen Nahverkehr gibt es also auch hier nicht, so dass wir weiterfahren.

Eine Zeitlang folgen wir einer Bahnlinie bis Nordheim, so dass wir auf diesem Abschnitt nur geringe Steigungen zu bewältigen haben. Anschließend trennt sich unser Weg von Streu und Bahn, ein kurzes Stück noch folgen wir der Bahra, doch dann müssen wir allmählich nach Stetten und Hausen hinauf und die hohen Berge rücken bedrohlich näher. Den zweiten Regenguss des Tages warten wir unter Bäumen an einigen Weihern ab, auf denen invalide Schwäne, Enten und Blässhühner ihrem Nachwuchs das Schwimmen beibringen.

Der Ort Rüdenschwinden inspiriert zu Kalauern, doch das Lachen bleibt im Halse stecken, denn nun kommt der nicht enden wollende Aufstieg zur Sennhütte. Unglücklicherweise dient die einspurige Straße den Einheimischen auch als Abkürzung und so herrscht auf diesem einsamen Berg ein Verkehr wie auf der Ost-West-Straße, wie man früher in Hamburg sagte.

Mal schiebend, mal im kleinsten Gang, quälen wir uns zentimeterweise voran, und wir sind glücklicherweise weit genug voneinander entfernt, um uns nicht gegenseitig beim Fluchen zu stören. Die Sennhütte ist schon in Sichtweite, als uns der dritte Schauer, diesmal auch mit Hagel, erwischt, dem wir wieder unter Bäumen entwischen. Nach dem langen Aufstieg erwarten wir sehnsüchtig die entsprechende Abfahrt, doch die lässt noch ein Weilchen auf sich warten.

Erst noch geht es an der früheren DDR-Grenze entlang, an die noch ein alter Wachturm erinnert, und in Frankenheim gelangen wir im Dreiländereck Bayern-Hessen-Thüringen sogar noch auf thüringischen Boden. Die einzige thüringische Guttempler-Gemeinschaft konnte uns in Hildburghausen nicht empfangen, so dass das Bundesland auf unserer Strecke bisher fehlte. Nach Frankenheim geht es nun endlich wieder abwärts, doch sehr viel steiler als der Aufstieg und auf unbefestigten Wegen, so dass wir uns um den Spaß betrogen fühlen. Dann endet auch noch der Weg auf einer Kreisstraße, auf die wir im rechten Winkel abbiegen müssen, was nur mit einer Vollbremsung gelingt.

Danach ist erst einmal Wechsel der Bremsbeläge angesagt, denn beim Hinterrad bremst nichts mehr. Dabei stelle ich fest, dass die Halterungen für die Beläge so ramponiert sind, dass diese sich nicht mehr zerstörungsfrei einschieben lassen – doch fürs erste genügt es. Weiter geht die Fahrt nach Hilders, und dort dürfen wir wieder eine ehemalige, nahezu ebene Bahnstrecke befahren. Das Vergnügen währt jedoch nicht lange, und dann geht es noch munter durch die nächsten Ortschaften auf und ab.

Ronalds Lampe hat sich unterwegs von ihm verabschiedet und damit funktioniert auch das Rücklicht nicht mehr. So endet seine Fahrt in Gotthards 16 Kilometer vor dem Ziel und Eberhard Dietz, Kreisbeauftragter der Guttempler in Nordosthessen, rettet seinen Tag, in dem er ihn abholen kommt. Ich fahre das restliche Stück allein weiter, ignoriere die Vollsperrung einer Kreisstraße und habe damit eine noch nicht endgültig geteerte Straße ganz für mich allein. Licht und Navi teilen sich den Strom des Nabendynamos, wobei Licht den Vorrang hat. Dadurch verdunkelt sich das Navi-Display im Energiesparmodus und die gewohnte Routenverfolgung ist nicht mehr erkennbar. Glücklicherweise ist bald darauf ein Radweg nach Hünfeld beschildert und so sause ich mählich bergab und bin noch vor Eberhard und Ronald am Ziel.

Inzwischen ist es kurz vor Zehn und damit ist dieser Tag nicht nur der mit den meisten Höhenmetern, sondern auch der mit der längsten Fahrzeit. Unser Bedarf nach Schlafen ist fast größer als nach Essen, doch bin ich mit der Berichterstattung bereits einen Tag im Verzug, so dass ich nach einem kurzen Imbiss wenigstens noch die vorbereiteten Fotos und Texte hochlade, bevor ich ins Bett sinke. Ronald wollte an diesem Tag mehrmals sterben, doch auch er liegt noch lebendig auf der Couch und schnorchelt leise vor sich hin. Jedem anderen hätte ich davon abgeraten, ausgerechnet die beiden härtesten Tage der Friedensfahrt zur Mitfahrt zu wählen, doch Ronald ist zäh und kommt zudem aus Hamburg, und darum haben wir es den Rhönern letztlich doch gezeigt, was Flachlandbewohner so alles drauf haben. Morgen besuchen wir die Guttempler-Fachklinik Mahlertshof im Nachbarort Burghaun.